Eigene Erfahrungswelten - Fragmente
Umbruch
Und plötzlich, als ob es sich um einen langen Orgelpunkt handeln würde, sind diese unbeschreiblich tiefen neuen Gefühle in mir, geradezu pausenlos, pochend und aufdringlich – sie versetzen mich in Tagträume, lassen mich die Welt vergessen, suchen mich regelmässig, stetig und mit einer unglaublichen Wucht heim und geben dem so schon schwierigen, chaotisch komplizierten Leben eine weitere Dimension - eine Dimension, die mich fesselt und mein Leben auf den Kopf stellt.
Stillleben – Tagtraum
Draussen vor dem Blockhaus erstreckt sich der See mit seinen fiordartigen Armen in die Länge. Inseln durchbrechen seine Mitte. Föhren, Birken, Zedern und Gräser säumen die zahlreichen Ufer. Blau und Grün scheinen miteinander zu wetteifern, in allen Variationen leuchten und schimmern sie, die beiden Farben; sie glänzen, funkeln, spiegeln und durchmischen sich, mal dunkel, dann wieder hell, immerzu anders, eigenwillig, unvorhersehbar. Jede Komposition ist Bild und Realität zugleich.
Die Zeit scheint still zu stehen, mal Tag, mal Nacht, kaum spürbar der Unterschied. Die Mitternachtssonne macht es möglich, bringt die Sinne durcheinander, lässt keinen Rhythmus mehr zu, verändert Empfindung, Wahrnehmung, berauscht und beruhigt zugleich.
Aufbruch
Meine Pflichten vernachlässige ich - dies schon seit geraumer Zeit. Heute, gestern und vermutlich so auch morgen werden kleinere und grössere Arbeiten zur Seite geschoben, vertagt, nicht mehr ganz so ernst genommen, vergessen. Niemand beklagt sich, kaum jemand bemerkt, wie die Nachlässigkeit Einzug gehalten hat. Wie ich die ach so wichtigen täglichen Kleinigkeiten, die mich meiner neu gewonnenen freien, befreiten Zeit berauben, liegen lasse, inzwischen möglicherweise allzu nachgiebig mit ihnen umgehe und sogar Gefallen daran finde, rücksichtslos und geradezu egoistisch das zu tun, worauf ich jetzt Lust habe und nicht das, was ich zu tun hätte. Ein Zustand, der mich gleichzeitig befremdet und beflügelt.
Aussicht
Aus dem Nichts scheint es zu kommen, das hell erleuchtete Schiff - ins Nichts zu gehen. Dunkel ist die Nacht, ruhig der See, unheimlich die Stimmung. Es liegt etwas in der Luft. Träume werden zum Leben erweckt und die Fantasie beginnt sich zu entfalten - Geschichten aus vergangenen Zeiten tauchen auf, sie sind grenzenlos.
Ich sitze am hölzernen Tisch, gross ist er, bestückt mit drei wunderschön restaurierten Biedermeierstühlen auf der einen Seite und mit einer langen hölzernen Bank auf der anderen. Der Raum wölbt sich, befindet sich im Dachgeschoss und strahlt etwas Festliches und Vornehmes aus.
Immer wieder suchen meine Blicke die Weite, der See zieht unaufhörlich meine Aufmerksamkeit auf sich und zieht mich in seinen Bann. Das Fenster, einer Tür ähnlich von der Decke bis zum Boden reichend, öffnet mir den prachtvollen Blick in eine Welt, die mir neu ist.
Die Wohnung, die wir in Not aufgesucht haben, in der wir die kommenden drei Monate leben werden - sie ist voll von neuen Düften, besonderen Gefühlen, überraschenden Inhalten und gesegnet mit einem guten Geist. War es Fügung oder Zufall , dass wir hierher finden durften?
Flexibilität
Die kurvenreiche Strasse zwischen Weggis und Flüelen schlängelt sich dem See entlang und schmiegt sich an die steil abfallenden Felsen; atemberaubend ragen sie aus dem Wasser, spiegeln sich je nach Licht und Tageszeit mal grün und grau oder schillernd umhüllt. Tagtäglich fahre ich diese Strecke und staune über die Szenerie, die sich vor mir ausbreitet. Mein Arbeitsweg war noch nie so voll von Emotionen wie jetzt.
Seit einer Woche mache ich ein Berufs-Praktikum und begebe mich einmal mehr in die Rolle der Lernenden. Was für ein Glück, habe ich doch feinfühlige Menschen um mich herum, die mich verstehen, meinen Wünschen und Nöten, Fragen und Unsicherheiten mit Verständnis begegnen und mich mit meiner so komplizierten Lebensgeschichte annehmen, ohne zu werten. Das Einarbeiten in einen neuen Beruf ist voller unvorhergesehener Begebenheiten. Zurzeit gibt es nur eine einzige Haltung, die im Moment hundert Prozent gefragt ist: Flexibilität!
Ich staune, was alles möglich ist und wie willig meine Gehirnzellen mitmachen und in atemberaubendem Tempo Neues lernen, es abspeichern und zudem noch mit Freude und einigem Humor sich an die Arbeit machen.
Und doch ist sie da, diese Stimme, ganz tief und pochend, ab und zu eine Spur zu aufdringlich und vorwitzig: „Was willst du eigentlich? Warum tust du dir das alles an? Was macht dich so sicher? Woher nimmst du die Kraft und die Energie? Wozu das alles, dieser komplizierte Lebensweg, diese Ausbrüche, diese nicht enden wollende Suche nach dem Neuen, nach dem Sinn?“
Möge mich der Tag an die Hand nehmen
Zu kurz war die Nacht – viel zu kurz. Wieder quäle ich mich aus dem Bett und würde es vorziehen, liegen zu bleiben und den grauen Herbsttag an mir vorbeiziehen zu lassen. Der starke Kaffee soll es nun richten und mich mit seinem angenehmen Aroma in den Tag führen.
Es ist noch früh am Morgen und die Bäume, Sträucher, Häuser und Wiesen, der See und die Berge erst in ihren Silhouetten sichtbar. Wieder mache ich mich auf den Weg - der verwunschenen Strasse entlang. In der Hoffnung der Tag möge mich an die Hand nehmen und mir den Weg weisen, begebe ich mich aus dem warmen Haus, und lasse es mit einem traurigen Blick zurück.
Trauer und Schwere
Für kurze Wege nur verlasse ich das warme Haus heute, hülle mich in meinen schwarzen Wollmantel und tröste mich mit dem Gedanken, alsbald wieder in die wohlige Wärme meiner vier Wände zurückzukehren. Obschon die Stimmung mit den verschneiten Bergen, dem kitschig türkisen Himmel, den sich bewegenden weissen Wolken und der Vorahnung des nahenden Winters seinen ganz besonderen Reiz hat, kann ich mich nicht mit der Aussenwelt befreunden. Lieber verkrieche ich mich in der Sofaecke und lasse den Tag an mir vorüberziehen, ohne ihn zu begrüssen. Ich halte mich fern von allem und beschäftige mich mit den Themen, die mich fest im Griff haben und sich mir aufdrängen - und nicht ruhen lassen. Dunkel ist meine Welt heute, gefüllt mit Trauer und grauen Wolken, voller Leid und Schwere. Ich habe keine Wahl und lasse es geschehen. Die Kraft, mich zu befreien, loszulassen, es bleiben zu lassen und mich mit der Zukunft zu beschäftigen, fehlt gänzlich. Im Wissen darum, dass mich dieser Tag zurückwerfen wird, lasse ich mich gehen und hoffe, mein Leben möge eines Tages wieder bunt werden.